„Wagniskapital für das Volk“ – Die Anti-Dystopie von Rutger Bregman

Rutger Bregman: Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen, 2020.

Nach dem Erstarken der Pandemie und den damit einhergehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben kann uns allen eine große Schippe Optimismus nicht schaden, um uns aus den dystopisch anmutenden Zeiten zu reißen. Genau das bietet uns Rutger Bregman mit seinem Werk „Utopien für Realisten“.

Die Grundannahme des niederländischen Autors: Historischer Fortschritt gründet zumeist auf utopischen Ideen. „Das Wort utopia bedeutet sowohl guter ‚Ort‘ als auch ‚Nichtort‘. Was wir benötigen, sind alternative Horizonte, die unsere Phantasie anregen. Und ich meine tatsächlich Horizonte im Plural, denn schließlich sind einander widersprechende Utopien das Herzblut der Demokratie. (…) Ohne Utopie sind wir verloren. Aber es ist eine freudlose Gegenwart, wenn wir nicht darauf hoffen dürfen, dass es in Zukunft besser sein wird (S. 28 f.)“, so Bregman.

Einen dieser Horizonte, den der Autor ansteuern möchte, ist das bedingungslose Grundeinkommen. Er betrachtet es nicht nur als Chance für einen gesellschaftlichen Entwicklungsschub, sondern auch als „Dividende des Fortschritts, angehäuft durch das Blut, den Schweiß und die Tränen früherer Generationen (S. 53 f.)“.

Der Autor argumentiert u. a. mit der Arbeit des Psychologen Eldar Shafir, der zufolge Armut eine Knappheit an finanziellen Mitteln ist. Diese Knappheit verengt unser Gesichtsfeld, denn sie zwingt uns zur Konzentration auf den unmittelbaren Mangel. Wem diese Bürde genommen wird, der kann sich ohne Zwänge entfalten. Finanzielle Abhängigkeiten werden auf diese Weise aufgelöst. Anhand mehrerer Studien versucht der Autor, den positiven gesellschaftlichen Effekt des bedingungslosen Grundeinkommens zu belegen. Er berichtet beispielsweise von Michael Faye, Gründer der Hilfsorganisation GiveDirectly, der u. a. im Westen Kenias versucht, mit bedingungslosen Einmalzahlungen die dort herrschende Armut zu bekämpfen. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) evaluierte dieses Projekt und kam zu folgendem Ergebnis: GiveDirektly konnte durch die Direktzahlungen u. a. einen dauerhaften Einkommensanstieg bei den Probanden um durchschnittlich 38 Prozent bewirken, um 58 Prozent den Besitz an Wohneigentum und Nutztieren erhöhen (vgl. S. 36).

Das Buch ist ein Parforceritt durch verschiedene Theorien, Studien, Experimente und historische Exkurse, die beim Leser keinerlei Zweifel am Erfolg des bedingungslosen Grundeinkommens aufkommen lassen. Er endet mit dem Appell des Autors: „An die Arbeit! Streichen wir diese nutzlosen, anmaßenden Hilfsmaßnahmen für Arbeitslose, die in Wahrheit nur die Arbeitslosigkeit verlängern –, und hören wir auf, die Empfänger von Sozialleistungen zu drillen und zu erniedrigen. Geben wir jedermann ein Grundeinkommen – Wagniskapital für das Volk –, damit die Menschen ihr Leben selbst in die Hand nehmen können (S. 255 f.)“.

Bregman stützt seine Ausführungen nicht auf eigene Forschungsinhalte, sondern auf eine Vielzahl von wissenschaftlichen Publikationen. Er argumentiert wie ein Lobbyist, der mit großer Begeisterung für das Grundeinkommen wirbt; dementsprechend geht er auch mit Kritik an seinem Herzensprojekt um – er blendet sie nahezu vollständig aus. Das ist die große Schwäche des Buches. Bedenken einer fortschreitenden gesellschaftlichen Polarisierung durch das Grundeinkommen, wie sie u. a. von der Soziologin Anke Hassel geäußert werden, verschweigt der Autor. Auf mögliche negative sozioökonomische Auswirkungen, die im wissenschaftlichen Diskurs eine nicht unbedeutende Rolle spielen, geht er selten ein. Wer diesen Umstand ausblendet, bei dem hinterlässt das Werk von Rutger Bregman ein gutes Gefühl und man ist durchaus geneigt, mit ihm diesen neuen Horizont anzusteuern.

Bezüglich der Schaffenskraft von utopischen Vorstellungen existieren auch andere Auffassungen als die von Bregman. So schreibt die Philosophin Ágnes Heller in ihrem Werk „Von der Utopie zur Dystopie“: Weil Utopien lügen, erwachse aus dem Glauben an die Utopie notwendig die Verzweiflung. Dystopien warnen uns indes vor einer furchtbaren Zukunft und veranlassen uns zum notwendigen Handeln. (bp 2020)