Neue Weltenerklärerinnen und Weltenerklärer braucht das Land

Tim Marshall: Die Macht der Geographie: Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt, 2017.

Ende September 2021 trat Generalsekretär António Guterres vor das Plenum der Vereinten Nationen in New York und mahnte die Weltöffentlichkeit: „Konflikte sind außer Kontrolle geraten. Der Klimanotstand wird immer schlimmer. Ungleichheit und Armut nehmen zu. In einer Zeit, in der Solidarität und Zusammenarbeit wichtiger sind denn je, herrschen Misstrauen und Spaltung unter den Menschen.“

Es scheint, als hätte es Klio – die Göttin der Geschichtsschreibung – besonders eilig, die Seiten der Enzyklopädie der Menschheit zu füllen. Bei allen gegenwärtigen Krisen, Kriegen, Katastrophen und anderen Herausforderungen auf der Welt fällt es schwer, den Überblick zu bewahren. Was uns fehlt, sind Weltenerklärerinnen und Weltenerklärer wie den 2014 verstorbenen Journalisten Peter Scholl-Latour. Er hat es vermocht, in seinen Büchern, Artikeln und Interviews einer breiten Masse an Leserinnen und Lesern zu erläutern, was die Welt im Innersten zusammenhält: Warum die USA ein Koloss auf tönernen Füßen ist, weshalb Afghanistan das Grab von Supermächten ist und wie der Westen mit Russland umzugehen hat, vor diesen Fragen schreckte Scholl-Latour nicht zurück. Wenngleich seine Antworten (besonders zuletzt) alles andere als unstrittig waren, häufig dem Denken einer vergangenen Epoche entsprungen sind, boten sie eine gewisse Orientierung in einer sich ständig verändernden Welt.

Tim Marshall ist auf dem besten Weg, ein Weltenerklärer des 21. Jahrhunderts zu werden. Wie Scholl-Latour ist auch er Journalist und Experte für Außenpolitik. Der Brite berichtete bereits aus mehr als 30 Ländern, darunter waren auch Krisengebiete wie der Kosovo, Afghanistan und Syrien. Mit „Die Macht der Geographie“ ist es Marshall gelungen, ein Werk zu schaffen, das die Leserinnen und Leser in die komplexe Welt der Geopolitik einführt. Im Rahmen seiner ca. 300 Seiten starken Studie analysiert Marshall Russland, China, USA, Westeuropa, Afrika, den Nahen Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika sowie die Arktis. Er nennt Interdependenzen, geht auf verschiedene historische, kulturelle, gesellschaftliche sowie religiöse Faktoren ein, welche die Menschen der verschiedenen Regionen prägten bzw. prägen. Doch über all diese Einflüsse, stellt der Autor die Geographie. Seine zentrale These lautet: „Alle Regierungen, alle Staatschefs unterliegen den Zwängen der Geographie. Berge und Ebenen, Flüsse, Meere, Wüsten setzen ihrem Entscheidungsspielraum Grenzen.“ So schreibt er beispielsweise über Russland: „Von den Moskauer Großfürsten über Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und Stalin bis zu Wladimir Putin sah sich jeder russische Staatschef denselben geostrategischen Problemen ausgesetzt, egal ob im Zarismus, im Kommunismus oder im kapitalistischen Nepotismus. Die meisten Häfen frieren immer noch ein halbes Jahr zu. Nicht gut für die Marine. Die nordeuropäische Tiefebene von der Nordsee bis zum Ural ist immer noch flach. Jeder kann durchmarschieren.“ Diese geographische Verwundbarkeit in Kombination mit den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg erachtet Marshall als ursächlich für die russische Angst vor dem Westen respektive der NATO. Sein Verständnis für die Annektierung der Krim durch Russland, ist kritisch zu hinterfragen: „Man könnte anführen, dass Putin eine Alternative gehabt hätte: Er hätte die territoriale Einheit der Ukraine respektieren können. Doch bedenkt man, dass er mit den geographischen Karten zu spielen hatte, die Gott Russland zugeteilt hat, war das nie eine echte Option. Putin hat nicht die Absicht, in die Geschichtsbücher einzugehen, der die Krim verloren hat – und mit ihr den einzigen richtigen eisfreien Hafen, zu dem sein Land Zugang hat.“

Pointiert erklärt Marshall Geopolitik und reichert seine Analyse mit zahlreichen Anekdoten an. So schreibt er über ein Ereignis mit dem China den USA seine Seemachtambitionen unmissverständlich mitteilte: „Im Oktober 2006 befuhr ein Konvoi mit dem über 300 Meter langen US-Superträger Kitty Hawk an der Spitze das Ostchinesische Meer (…) als ohne Vorwarnung ein U-Boot der chinesischen Marine inmitten der Gruppe [von Kriegsschiffen] auftauchte. (…) Das chinesische Schiff, ein Kampf-U-Boot der Song-Klasse, kann mit seinem dieselelektrischen Antrieb zwar sehr leise laufen, aber es war trotzdem so, als würde die Geschäftsleitung von Pepsi-Cola bei einer Vorstandssitzung von Coca-Cola unter dem Tisch hervorkriechen, nachdem man dort eine halbe Stunde gelauscht hatte.“  

Marshall räumt ein, dass die Geographie nicht den Verlauf aller Geschehnisse diktiere, doch alle Akteure der Weltpolitik müssen innerhalb der Grenzen operieren, die die Geographie ihnen setze. Wie der UN-Generalsekretär in seiner Rede warnt auch Marshall vor den Herausforderungen des Klimawandels: „Die globale Erwärmung kann leicht zu Massenwanderungen führen. Wenn die Malediven und viele andere Inseln tatsächlich vom Meer verschlungen werden, würden die Auswirkungen nicht nur diejenigen betreffen, die rechtzeitig fliehen konnten, sondern auch die Länder, in denen sie Zuflucht suchen. (…) Wenn die Desertifikation der Länder direkt unterhalb der Sahelzone weitergeht, werden Kriege wie der im sudanischen Darfur heftiger sein und häufiger vorkommen.“ Als weiteres potenzielles Problem der Zukunft nennt der Autor Kriege um Wasser.

Marshall erklärt seinen Leserinnen und Lesern nicht nur die Welt, wie es einst Peter Scholl-Latour in seinen zahlreichen Veröffentlichungen getan hat; er lehrt ihnen vielmehr, was Geopolitik im Kern ausmacht. Dementsprechend kann man ihn guten Gewissens als Weltenerklärer des 21. Jahrhunderts bezeichnen. (bp 2021)