Eine unerwartete Reise mit Neil McGregor

Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation, 2017.

Laut Heinrich August Winkler bedeutet, aus der deutschen Geschichte zu lernen, vor allem: verantwortlich mit der eigenen Geschichte umzugehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist dafür eine Grundvoraussetzung. Wer die anstehenden Feiertage nutzen möchte, um sich von zuhause auf eine geschichtsträchtige Reise zu begeben, dem bietet der emeritierte Professor für Neueste Geschichte mit seinem vierbändigen Werk „Geschichte des Westens“, das insgesamt mehr als 4600 Seiten umfasst, keine schlechte Ausgangslage.

Wer seine Geschichtslektüre indes um einen Perspektivenwechsel erweitern und um 4000 Seiten reduzieren möchte, dem sei Neil McGregors „Deutschland: Erinnerungen einer Nation“ empfohlen. Der Schotte meidet einen stumpfen chronologischen Aufbau, sondern nähert sich der Geschichte der Deutschen auf vielfältige Weise. Ausgangspunkte seiner historischen Expeditionen sind u. a. Denkmale, Gedenkorte, Gegenstände sowie Speisen. In Kapitel 9 widmet er sich der Ruhmeshalle Walhalla, die sich in der Nähe von Regensburg hoch über der Donau befindet. Der Säulentempel im hellenischen Stil wurde auf Wunsch des bayerischen Königs Ludwig I. erbaut. 1830 erfolgte die Grundsteinlegung, zwölf Jahre später die feierliche Eröffnung. Die Vision des Monarchen war die Schaffung eines Bauwerks, das die Erinnerungen an verdiente deutschsprachige Frauen und Männer für die Nachwelt konserviert. Zum Zeitpunkt der Errichtung existierte noch kein deutscher Nationalstaat; das verbindende Moment der Deutschen war die gemeinsame Sprache. MacGregor beschreibt die Walhalla als eine Art Rock 'n' Roll Hall of Fame der deutschen Philosophen, Dichter, Künstler und Wissenschaftler. Als eingeborener Leser bekommt man das Gefühl: Der Schotte scheint die heutige Bedeutung dieser Ruhmeshalle für die Menschen in Deutschland geringfügig zu überschätzen. Die wenigsten Kinder (außerhalb des Freistaats Bayern) hegen den Traum, eines Tages ihr Abbild in dieser Halle wiederzufinden. Doch dies sei dem Mann von der Insel verziehen, denn seine Rückschlüsse, die er aus der Betrachtung der Walhalla zieht, sind bemerkenswert: „Geht man in der Walhalla umher, dieser monumentalen Chronik der deutschsprachigen Welt und ihrer Errungenschaften, dann trifft man zuletzt auf Sophie Scholl (…) Ihre Büste steht über der letzten, diese Ebene abschließende Gedenktafel – sie trägt die Worte: ‚Im Gedenken an alle, die gegen Unrecht, Gewalt und Terror des Dritten Reichs mutig Widerstand leisteten‘. In diesem Bauwerk (…) können die Besucher etwas von dem Ringen einer Nation wahrnehmen, die versucht, zu einer gemeinsamen Geschichte zu gelangen, die kohärent ist und Integrität besitzt (S. 214).“ Der Autor zeigt diesen Prozess u. a. anhand der Diskussionen, die seit der Errichtung der Walhalla geführt wurden, wenn es darum ging, die Ruhmeshalle zu erweitern. Lange war die Religion im katholischen Bayern ein entscheidendes Kriterium für die Aufnahme, doch diese Barriere wurde mit der Zeit überwunden. Allerdings warten heute noch große historische Persönlichkeiten auf ihre Aufnahme. Bis der Bayerische Landtag (er entscheidet über die Aufnahme) Karl Marx in die Walhalla einlädt, werden vermutlich noch ein paar Jahre vergehen, wenngleich von ihm schon ein paar Büsten vorrätig sind.

„Erinnerung an eine Nation“ ist keinesfalls ein Jubelwerk eines deutschlandaffinen Briten, der einen gut geschriebenen Reiseführer für seine Landsleute verfasst hat. In 30 Kapiteln behandelt MacGregor die Höhen wie die düsteren Abgründe der deutschen Vergangenheit. Der Autor regt seine Leserinnen und Leser zum Nachdenken an und begeistert für das Fach Geschichte. Auf diese Weise ebnet er ihnen auch den Weg zu umfangreicheren historischen Abhandlungen wie Heinrich August Winklers „Geschichte des Westens“. (bp 2021)