Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, 2019.
Unter dem Motto „Zusammen wachsen“ lud die Thüringer Landeshauptstadt zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit ein (2022). Während Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in ihrer Festrede einräumte: „In Westdeutschland haben wir lange nicht ernstgenommen, dass die Nachwendezeit Wunden geschlagen und Narben hinterlassen hat“; bezeichnete Bundesratspräsident Bodo Ramelow das Ost-West-Verhältnis als „keineswegs spannungsfrei“. Das habe seines Erachtens mit Verletzungen, Enttäuschungen und Missverständnissen auf beiden Seiten zu tun, die viel zu selten in den Blick genommen würden. Er appellierte: „Wir können die bestehenden Gräben nur schließen, wenn wir uns bewusst machen, dass sie bestehen und warum sie bestehen.“ Wenngleich Ramelow als gebürtiger Niedersachse – im Gegensatz zu seiner Partei – auf keine DDR-Vergangenheit zurückblicken kann, ist sein Ansatz zu begrüßen.
Einen wichtigen Beitrag zu einem besseren Verständnis kann Ilko-Sascha Kowalczuks Buch „Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ aus dem Jahr 2019 leisten. Hinter dem etwas reißerischen Titel verbirgt sich ein essayistisches Werk, das mit Empathie und nicht frei von Selbstkritik den Einigungsprozess nachzeichnet. Gegen den Mythos, die DDR sei von Westdeutschland kolonialisiert worden, verwehrt sich der Historiker: „Denn welcher Kolonisierte hätte seine Kolonialherren schon mit freien demokratischen Wahlen selbst herbeigerufen? (…) Was auch immer in Ostdeutschland nach 1990 geschah, es mit den europäischen kolonialen Massenverbrechen begrifflich auf eine Stufe zu stellen, kommt mir auch heute nicht in den Sinn.“
Es steht außer Frage, der Westen dominierte den Einigungsprozess. Abseits von den wirtschaftlichen Faktoren war eine Einigung auf Augenhöhe schon aufgrund des Verhältnisses der Einwohnerzahl der neuen und alten Bundesländer im Jahre 1990 – cum grano salis 20 zu 80 – nicht wahrscheinlich. Die Veränderungen für die Bürgerinnen und Bürger im Osten waren fundamental. Wo eine Blut-Mühsal-Tränen-und-Schweiß-Rede à la Churchill angebracht gewesen wäre, wiederholte die Bundesregierung ihre Formel von den blühenden Landschaften trotz besseren Wissens um die Herausforderungen der Einheit. Rückblickend verzwergen solche Aussagen, die enorme Leistung des geeinten Landes.
Die Chance, mit einer gemeinsam beschlossenen Verfassung, einen wichtigen Identitätsfaktor für Ost und West zu stiften, ließ die Regierung verstreichen. Wenn nur der Einband – des ursprünglich als Provisorium angedachten Grundgesetzes, mit dem einer Verfassung getauscht worden wäre, hätte man ein Zeichen eines gemeinsamen Neuanfangs setzen können. „Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste.“
Der Historiker macht seine Leserinnen und Leser auf die herausragende Bedeutung des Arbeitsplatzes aufmerksam, der in der Gesellschaft der DDR weitaus mehr war als die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Hier unterschied sich Ost- und Westdeutschland nach 40 Jahren der Trennung in hohem Maße: „Die DDR war eine ‚Arbeitsgesellschaft‘, die eine Vielzahl von sozialen und kulturellen Inhalten einschloss. Der Zusammenbruch stellte daher weitaus mehr als nur ein ökonomisches und individuellsoziales Problem dar. Das zeitweilige Miteinander von Betriebsleitungen und -belegschaften wich schon im Frühjahr (1990) harten Konkurrenzkämpfen, da die einen wie die anderen ums Überleben rangen.“
Weshalb ein Teil – nicht die Mehrheit – der Bevölkerung im Osten mit der Demokratie bis heute hadert, erklärt Kowalczuk wie folgt: „Wenn eine Gesellschaft sich der Diktatur entledigt, ein großer Teil befreit wird, nur der kleinere Teil sich selbst befreit hat und zugleich dem großen Teil die Freiheit schenkt, ohne dass dieser etwas dafür tun musste, ohne dass dieser anschließend irgendetwas tun muss, dann kann dies nicht folgenlos bleiben. Sozialpsychologisch geht der Mensch mit Selbsterrungenen, dem Selbsterkämpften sorgsamer um, ist es eher bereit zu verteidigen, als wenn es ihm völlig überraschend geschenkt wird.“
Der Historiker ergründet auf verschiedenen Ebenen die ostdeutsche Seele, geht auf Verletzungen, Enttäuschungen und Missverständnisse ein. Doch auf die Frage, ob Alternativen zu dem 1990 beschrittenen Weg im Kern besser ausgefallen wären, antwortet er: „Das würden wir mit unserem Wissen von heute wohl gern behaupten. Mit dem Wissen von damals allerdings gibt es auch im Nachhinein wenig Anlass für die Annahme, andere Wege wären komplikationsloser verlaufen.“ (bp 2022)