„Ich war nie eine große Freundin der Politik“

Michelle Obama: Becoming. Meine Geschichte, 2018.

Michelle Obama veröffentlichte Ende des Jahres 2018 ihre Memoiren, ein ganzes Jahr vor ihrem Ehemann. Die Erwartungen an ihr Buch waren gigantisch, hierfür sprach nicht nur der rekordverdächtige Partner-Vertrag mit Random House in Höhe von 65 Millionen US-Dollar, für die Memoiren von Michelle und Barack Obama, sondern auch der Umstand, dass „Becoming“ bereits am Erscheinungstag – in nicht weniger als 30 Sprachen übersetzt – weltweit vertrieben wurde. Obamas Buch erhielt überragende Kritiken und überzeugte mit Rekordverkaufszahlen.

Die wechselnden Bewohner des Hauses 1600 Pennsylvania Avenue vermarkten nach ihrem Auszug regelmäßig ihre Lebensgeschichten. Dass eine ehemalige First Lady ihre Memoiren veröffentlicht, ist ebenfalls nicht neu; Abigal Adams tat dies bereits im Jahr 1840. Wie Michelle Obama das Projekt umgesetzt hat, ist außergewöhnlich. Wer eine Geschichte im Stile von „How I met Barack Obama“ erhofft oder eine detaillierte Sicht auf die Präsidentschaft von Barack erwartet, wird enttäuscht. Es geht um mehr. Es geht um Michelles Weg von der Chicagoer South Side, über die besten Universitäten des Landes, hin zu einer Karriere als erfolgreiche Anwältin, Vizepräsidentin eines Krankenhauses, Mutter, Leiterin einer gemeinnützigen Organisation und wichtigste Stütze des amerikanischen Präsidenten sowie um die Höhen und den Widrigkeiten, die ein Leben in der Öffentlichkeit mit sich bringt.

Mit Blick auf diesen Weg hebt die Autorin mehrfach hervor, von welcher herausragenden Bedeutung der starke Rückhalt ihrer Familie war und noch immer ist. Als Michelle in der Grundschule an eine Lehrerin geriet, die ihre Schülerinnen und Schüler lediglich beaufsichtigte, aber nicht unterrichtete, schritt ihre Mutter Marian Robinson ein, um ihrer Tochter alle Chancen auf Bildung zu ermöglichen. Gerade mit Blick auf das raue Pflaster der South Side ist dieser Schritt nicht zu unterschätzen. Ihre Eltern aus der Arbeiterschaft erkannten den Wert von Bildung und ermöglichten ihren Kindern – Craig und Michelle – den Zugang zu ihr. Als es um die Frage ging, an welche Uni es gehen solle, setzte sie sich über die Empfehlung der Studienberaterin hinweg, die ihr in Princeton wenig Chancen einräumte. Im Berufsleben angekommen orientierte sie sich zweimal komplett neu, sie beschreibt, wie sie den Mut fand, eine sehr rentable Anstellung bei der Kanzlei Sidley & Austin in Chicago aufzugeben, um einen neuen Weg einzuschlagen, der weniger Geld einbrachte, ihr jedoch eine größere Zufriedenheit bescherte. Aufrichtig schreibt sie über Erfolge wie Enttäuschungen, den privaten wie den öffentlichen.

Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie die politischen Ambitionen ihres Mannes mit Skepsis betrachtet hat. Wenngleich sie an den Fähigkeiten ihres Mannes keine Zweifel hegte, resultierte ihre kritische Haltung aus ihrer Abneigung gegenüber dem politischen Betrieb ihres Landes: „Washington irritierte mich. All die schwerfälligen Traditionen und die humorlose Selbstbezogenheit, die Dominanz alter weißer Männer, deren Frauen im Nebenraum beim Lunch saßen.“ Sie räumt ein, sie befürchtete nicht mehr als eigenständige Person wahrgenommen, sondern lediglich über ihren Mann definiert zu werden.

In ihrer Zeit im Weißen Haus nutzte Michelle ihre Position als Fürsprecherin für die Rechte von Frauen, setzte sich für einen gesellschaftlichen Wandel und für ein gesünderes und aktiveres Leben ihrer Landsleute ein.

Das Buch liest sich über weite Strecken wie eine Empfehlung für eine Laufbahn in der Politik. Michelle Obama zeigt anhand ihrer Erfahrungen auf, mit welchen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten das Land zu kämpfen hat. Sie geht auf das Bildungssystem ein, das weiße Amerikaner ebenso dominieren wie die einflussreichsten Posten im Staat und der Wirtschaft. Dass sie das politische Geschäft beherrscht, dürfte spätestens nach ihrer fulminanten Rede auf dem Parteitag der Demokraten in Philadelphia im Juli 2016 niemand mehr infrage stellen. Obamas viel zitierter Schlüsselsatz – „When they go low, we go high“ – zeugt noch heute von der Strahlkraft ihrer Rede. Dennoch streitet die Anwältin ab, eine solche Laufbahn einschlagen zu wollen: „Weil ich so oft gefragt werde, sage ich es hier jetzt ganz klar: Ich habe nicht vor, jemals für ein offizielles Amt zu kandidieren. Ich war nie eine große Freundin der Politik, und meine Erfahrungen in den letzten Jahren waren nicht dazu angetan, etwas daran zu ändern.“

Allerdings haben etliche erfolgreiche politische Karrieren damit begonnen, jegliche Ambitionen auf ein politisches Amt kategorisch auszuschließen. Für Amerika wäre Michelle Obama ein Gewinn. (bp 2022)