Die Merz-Story

Sara Sievert: Der Unvermeidbare. Ein Blick hinter die Kulissen der Union, 2025.

Im Frühjahr 2018 erschien „Die Schulz-Story“ von Markus Feldenkirchen. Für das Buch begleitete er im Jahr 2017 den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz durch die Höhen und Tiefen des Bundestagswahlkampfes. Der Journalist dokumentiert, wie die Begeisterung der Bürgerinnen und Bürger von Martin Schulz bei dessen Nominierung auf dem SPD-Parteitag im Frühjahr 2017 auf seinen Zenit zusteuerte, danach langsam schwand und letztlich in einer Niederlage gegen Amtsinhaberin Angela Merkel mündete. Ebenso nüchtern wie distanziert zeigt Feldenkirchen auf, wie zu viele Beraterinnen und Berater eine stringente Wahlkampfstrategie erschwerten oder anders ausgedrückt: wie es dem Willy-Brandt-Haus gelang, der Öffentlichkeit den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments als Bürgermeister von Würselen zu präsentieren. Nach der Wahlniederlage reüssierte die „Schulz-Story“ nicht nur in den Feuilletons, sondern auch an den Kassen der Buchläden.

Rückblickend gehört der Merkel-Schulz-Wahlkampf nicht zu den Schlaglichtern der Duelle um das Kanzleramt. Was wäre, wenn man das Projekt von Feldenkirchen mit Blick auf die Bundestagswahl im Jahr 2025 wiederholt? Überlagernde Krisen, der Bruch der Regierungskoalition, vorzeitige Neuwahlen, eine von allen guten Geistern verlassene US-Administration sowie die sicherheitspolitische Bedrohung durch den russischen Imperialismus bieten eine Ausgangssituation, um die „Schulz-Story“ zu übertreffen.

Womöglich dachte die Journalistin Sara Sievert ähnlich, als sie die „Merz-Story“ expressis verbis „Der Unvermeidbare“ in Angriff nahm. Das Comeback von Friedrich Merz, der einst Angela Merkel im innerparteilichen Kräftemessen unterlag, sich eine Auszeit von der Politik nahm, um die Post-Merkel-CDU von der Opposition auf die Regierungsbank zu führen, bietet hierfür genug Stoff.

Sievert richtet dabei ihr Hauptaugenmerk nicht nur auf Friedrich Merz, sondern auf das Machtzentrum der Union. Sie zeigt auf, wie sich die zentralen Akteure der CDU zur Kür des Spitzenkandidaten in Stellung brachten und wie es Friedrich Merz gelang, das Rennen für sich zu entscheiden. Ferner analysiert die Autorin den Wahlkampf von Armin Laschet im Jahr 2021. Neben dem suboptimal agierenden Spitzenkandidaten, der vor vier Jahren gegen Olaf Scholz antrat, macht die Autorin Markus Söder als einen weiteren Faktor für das schwache Abschneiden der Union an der Wahlurne aus. Der Ministerpräsident Bayerns deckte Laschet während der heißen Phase des Wahlkampfes konsequent mit „Friendly Fire“ ein, welches dem bekannten Bonmot – die Steigerung von Feind sei Parteifreund – alle Ehre machte.

Die Autorin stilisiert den innerparteilichen Machtkampf zwischen Söder und Merz zur finalen Auseinandersetzung um die Spitzenkandidatur der CDU. Hendrik Wüst, der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, bleibt bei ihrer Betrachtung des Machtkampfes nicht außen vor. Ihm widmet die Journalistin ein eigenes Kapitel mit der aussagekräftigen Überschrift „Der Anti-Merz“ (vgl. S. 133). Aufgrund von Wüsts Berechenbarkeit gilt er als einflussreicher, aber weniger gefährlicher Kontrahent von Merz im Rennen um die Spitzenkandidatur.

Besonders bei dem innerparteilichen Machtpoker entfaltet Sieverts Buch seine Stärken. An Feldenkirchens Arbeit kommt ihre „Merz-Story“ leider nicht heran. Hierfür sind zwei Faktoren ursächlich. Erstens: Die Autorin nutzt zwar für ihre Analyse Gespräche mit Parteigrößen wie Wolfgang Schäuble, Hendrik Wüst und Friedrich Merz, aber die Einblicke, die daraus resultieren, haben nur selten einen exklusiven Charakter. Das gilt für alle Leserinnen und Leser, die das politische Tagesgeschäft in den Printmedien und allabendlich in der Tagesschau verfolgen. 

So berichtet die Autorin in dem Kapitel „Merz und die Frauen“ über Situationen, bei denen sich der Oppositionsführer nicht gerade als Feminist hervorgetan hatte. Die CDU-Politikerin Serap Güler kritisiert darin das Defizit an Frauen in ihrer Partei, gerade, wenn es um die Bearbeitung von „härteren Themen“ wie Verteidigung ginge. Aus dem SPIEGEL gibt die Autorin eine Position von Carsten Linnemann wieder, der dort forderte: „Eine Serap Güler ist zu wenig, wir brauchen 100 Serap Güler (S. 102)“. Was der Lesende bei den Ausführungen über „Merz und die Frauen“ schmerzlich vermisst, ist eine Stellungnahme von Friedrich Merz. 

Zweitens: Die „Schulz-Story“ ist eine in sich geschlossene Dokumentation von der Nominierung des Spitzenkandidaten bis zu dessen Scheitern bei der Bundestagswahl. Sieverts Werk fühlt sich hingegen unfertig an. Die Frage nach den Gründen für das Erscheinen des Buchs vor der Bundestagswahl kann nur von der Autorin oder ihrem Verlag beantwortet werden. Aus Sicht der Leserinnen und Leser war die Entscheidung falsch. Der unglückliche wie erfolglose Versuch, als Oppositionsführer ein Gesetz zur Migrationsbegrenzung in den Bundestag einzubringen und dabei die Stimmen der AfD-Fraktion billigend in Kauf zu nehmen; der Sieg der Union bei der Bundestagswahl am 23. Februar 2025, die anschließenden Koalitionsverhandlungen mit der SPD sowie das historische Scheitern von Friedrich Merz bei der ersten Abstimmungsrunde der Kanzlerwahl im Deutschen Bundestag sind wichtige Wegmarken des „Unvermeidbaren“. Hätte Sara Sievert abgewartet, das Machtzentrum der Union in dieser turbulenten Phase vor und nach der Bundestagswahl analysiert, wäre das Buch (noch) lesenswerter. (bp 2025)