Ein Nachruf

Bob Woodward: Krieg, 2024.

Wer auf die erste Hälfte dieses Jahrzehnts zurückblickt, dem scheint es, als hätte Klio – die Muse der Geschichtsschreibung – die vergangenen Jahre für einen veritablen Sprint genutzt. Zunächst schränkte eine globale Pandemie unser Alltagsleben ein. Im Februar 2022 startete der russische Präsident eine Vollinvasion der Ukraine, die sich bereits seit 2014 gegen eine mehr oder weniger verdeckte militärische Aggression Russlands behaupten musste. Das Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023 an israelischen Frauen, Männern und Kindern, der daraus resultierende Krieg in Gaza sowie die Wiederwahl von Donald Trump zum 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika lassen die Hoffnung schrumpfen, dass die zweite Hälfte des Jahrzehnts ruhiger oder gar berechenbarer ausfallen wird. 

Jene krisenreichen Jahre — vom schwierigen Beginn der Biden-Präsidentschaft, die von der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 überschattet wurde, bis hin zur heißen Phase des US-Wahlkampfs 2024 — hat Bob Woodward in den Mittelpunkt seines Werks „Krieg“ gestellt. Dabei analysiert der zweifache Pulitzerpreisträger nicht nur die großen internationalen Krisen, sondern richtet seinen Blick gleichsam auf die amerikanische Innenpolitik. 

Seine Ausführungen gründen auf hunderten Interviewstunden mit den zentralen Akteuren der amerikanischen Politik sowie der Analyse von Dokumenten wie Kalendern, Tagebüchern, E-Mails, Gesprächsnotizen, Mitschriften und Sitzungsprotokollen. So gewährt Bob Woodward dem Lesenden einen außergewöhnlichen Einblick in den Maschinenraum der amerikanischen und internationalen Politik. Die Kapitel, die sich mit dem Ukrainekrieg sowie der Eskalation des Nahost-Konflikts auseinandersetzen, zeichnen das Buch aus. 

Der Autor schildert überzeugend, wie die US-Geheimdienste das aggressive Gebaren des Kremls zu Beginn des Jahrzehnts korrekt einschätzten. Dabei führt er ein psychologisches Gutachten über Putin an, das dem russischen Präsidenten eine ausgeprägte Großmannssucht attestiert, die sich in seiner Überzeugung ausdrückt, nur er könne Russland wieder zur imperialen Größe verhelfen (vgl. S. 35). Woodwards Quellen zufolge soll die Zurückgezogenheit während der Corona-Pandemie Putin in diesem Vorhaben bestärkt haben: „Die Eroberung der Ukraine war während seiner Corona-Isolation zu einer Art Fiebertraum geworden. Doch das Fieber verschwand nicht. Es sank nicht (S. 62).“

Die Amerikaner warnten bereits Ende 2021 eindringlich vor einem groß angelegten russischen Angriff auf die Ukraine, der am 23. Februar 2022 die Welt erschütterte. Aus heutiger Sicht ist es ein Armutszeugnis der europäischen Staatengemeinschaft, expressis verbis von Frankreich und Deutschland, die Hinweise der US-Administration ignoriert zu haben. Das Ausmaß der Unwissenheit des deutschen Auslandsgeheimdienstes verdeutlicht Woodward anhand einer Reise von Bruno Kahl: „[D]er Chef des deutschen Nachrichtendienstes BND […] hielt sich am Morgen der Invasion in Kiew auf. Bis zum Start der ersten russischen Raketen war er allen Nachrichtenbewertungen der USA und der Briten zum Trotz überzeugt, dass es nicht so weit kommen würde. Die mit Deutschland rivalisierenden Polen erzählten sich gern, der BND-Chef habe von Sondereinsatzkräften per Auto aus der Ukraine gefahren werden müssen, da er sein Flugzeug nach dem russischen Angriff nicht mehr nutzen konnte (S. 150).“ 

Woodwards Ausführungen über den Verlauf des Krieges bis in den Herbst 2024 zeigen, wie schwer es den Europäern fiel, den Aggressor Russland in die Schranken zu weisen. Es war die Biden-Administration, die bei der Unterstützung der Ukraine die Führung übernahm. Mit einer unglücklichen Verzögerung hinsichtlich des Kriegsgeschehens gelang es Biden, auch Olaf Scholz von der Notwendigkeit deutscher Panzerlieferungen an die Ukraine zu überzeugen. Dabei lässt der Autor die Bedenken des Bundeskanzlers nicht außer Acht. So schildert er ein Gespräch von Staatssekretär Tony Blinken mit Olaf Scholz am Rande des G7-Gipfels in Schloss Elmau, das sich Ende Juni 2022 zutrug: „‚Es treibt mich sehr um‘, sagte Scholz. ‚Es bereitet mir auch Sorgen.‘ ‚Was meinen Sie, Herr Kanzler?‘, fragte Blinken. ‚Jetzt begrüßen die Menschen das‘, sagte Scholz. „Aber ich bin mir nicht sicher, wie sie es in einigen Jahren betrachten werden, wenn wir unser Versprechen einlösen und Deutschland wieder die führende Militärgewalt in Europa ist. Ich weiß nicht, ob das goutiert werden wird (S. 175).“ 

Es sind solche Gesprächsepisoden, mit denen Woodward die großen Entscheidungen der internationalen Politik für den Lesenden fassbar macht. Somit ist „Krieg“ keine bloße Darlegung von Ereignissen, wie wir sie in ähnlicher Weise aus der Presse oder den Nachrichten hätten entnehmen können. 

Wenn der Autor sein Hauptaugenmerk auf den Nahost-Konflikt richtet, schildert er die Ereignisse aus Sicht des Weißen Hauses. Weder die CIA noch der Mossad hatten Kenntnisse über die Planungen der Hamas, ein Massaker unter der israelischen Zivilbevölkerung zu verüben und Geiseln zu nehmen: „Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines sah sich die Berichte genau an. Vor dem 7. Oktober gab es Anzeichen für wachsende Spannungen zwischen Israel und der Hamas. Die US-Geheimdienste hatten vor der zunehmenden Möglichkeit eines begrenzten Angriffs gewarnt, von etwas, was die Hamas so oder ähnlich schon in der Vergangenheit getan hatte. Doch das ungeheure Ausmaß des 7. Oktober kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. ‚Fraglos eine Überraschung‘, berichtete Haines (S. 233).“ Die Reaktion der israelischen Regierung mündete in einem groß angelegten Feldzug gegen die Terrororganisation im Gazastreifen. Die Hamas scherte sich nicht um die Bevölkerung in Gaza und nahm die militärische Auseinandersetzung mit den überlegenen israelischen Streitkräften billigend in Kauf. Die Kriegsführung sowie die daraus resultierende humanitäre Katastrophe in Gaza sind Gegenstand etlicher Telefonate zwischen Biden und Benjamin Netanyahu. Die Gespräche offenbaren das Bemühen, der amerikanischer Seite den Konflikt einzudämmen.

Woodwards Analyse zeugt von seiner hohen Wertschätzung gegenüber der Biden-Administration. So schreibt er: „[M]einer Ansicht nach spricht alles dafür, dass Präsident Biden und sein Team bei künftigen Historikern als Beispiel beständiger und zielgerichteter Führung gelten werden (S. 428).“  

Die abschließenden Kapitel des Buchs drehen sich um die heiße Phase des US-Wahlkampfs 2024. Wenngleich Woodward das Scheitern der Biden-Kampagne ungeschönt darstellt, verkennt der renommierte Journalist die Verantwortung des Präsidenten für den Wahlsieg von Donald Trump. 

Der Autor räumt ein, dass Belege dafür sprachen, dass Bidens Fähigkeit, schlüssig zu agieren, bei einigen öffentlichen Veranstaltungen bereits im Sommer 2023 altersbedingt nachließ und sich sein Zustand Anfang Juni 2024 abermals verschlechterte (vgl. S. 390).

Spätestens Ende Juni – beim ersten medialen Aufeinandertreffen von Biden und Trump – offenbarte sich die schlechte Verfassung des 46. US-Präsidenten der Öffentlichkeit in aller Deutlichkeit. Darüber schreibt Woodward: „Am 27. Juni, gut vier Monate vor dem Wahltag, bewegte sich Präsident Biden steif über die Bühne der Präsidentschaftsdebatte in den CNN-Studios von Atlanta, Georgia. Biden, ohnehin der älteste amtierende Präsident der US-Geschichte, wirkte blass, müde und schwach, fast wie der Geist eines Mannes. Sein strauchelndes, wirres Auftreten sollte als womöglich einer der schlechtesten öffentlichen Auftritte eines amtierenden US-Präsidenten in der Geschichte eingehen. Er löste eine Krise um Bidens politisches Überleben aus (S. 391).“ 

Der Wahlsieg von Donald Trump hing nun wie ein Damoklesschwert über der Demokratischen Partei und ihrer Führung. Doch der Präsident blieb stur. Seine Entschuldigungen für den unglücklichen TV-Auftritt verloren an Glaubwürdigkeit, als ihm auf der Pressekonferenz des Washingtoner NATO-Gipfels in der ersten Julihälfte ein weiterer unglücklicher Patzer unterlief: So verwechselte er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj mit Wladimir Putin. 

Wenige Tage nach dem Gipfel am 13. Juli 2024, während einer Wahlkampfveranstaltung in Butler im Bundesstaat Pennsylvania, schoss der 20-jährige Thomas Matthew Cook mehrfach in Richtung Donald Trumps, verletzte ihn am Ohr und tötete einen Mann im Publikum. Der Spitzenkandidat der Republikaner reagierte wenige Sekunden nach den Schüssen ebenso abgeklärt wie geistesgegenwärtig: Trump streckte seine Faust zum Himmel und skandierte „Fight! Fight! Fight!“ — die Menge jubelte. Eine surreal anmutende Situation, deren Aufzeichnung eine mediale Reichweite erlangte, die in der Geschichte bis heute wohl beispiellos ist. Das öffentliche Bild der beiden Kandidaten hätte am Abend des 13. Juli nicht unterschiedlicher ausfallen können. Doch das Weiße Haus brauchte noch acht Tage, um zu realisieren, dass Biden nicht mehr in der Lage war, den Wahlkampf für sich zu entscheiden. Am Sonntag, dem 21. Juli verkündete Präsident Biden, der sich mit einer Coronainfektion in seinem Privathaus in Rehoboth Beach in Isolation befand, dass er sich nicht zur Wiederwahl stellen würde. Er empfahl Vizepräsidentin Kamala Harris als Präsidentschaftskandidatin der Demokraten.

Der Lesende muss hier mit dem Wissen, wie die Wahl letztlich ausgegangen ist, feststellen: Woodward hat bei seiner Analyse des US-Wahlkampfs seine Objektivität, die ihn als Journalisten so häufig ausgezeichnet hat, eingebüßt. So resümiert er über den Rücktritt Bidens: „Im Gegensatz zu Trump zeigte Biden, dass er unangenehme Wahrheiten akzeptieren und trotz seiner persönlichen Ambitionen das Interesse der Öffentlichkeit erkennen kann. Er war zu alt, um den Wahlkampf durchzustehen (S. 543).“ Woodward flankiert sein Resümee mit einem Gespräch zwischen Blinken und Biden über den Rückzug des Präsidenten aus dem Wahlkampf: „‚Ich bin unglaublich stolz auf das, was du getan hast‘, sagte Blinken zu Biden. ‚Ich kenne nicht viele Menschen in deiner Position, die so gehandelt hätten.‘ In einer Situation wie dieser die Macht aus der Hand zu geben, hat etwas Shakespearehaftes. ‚Ich glaube, das ist das Richtige für dich, für dein Erbe und für die Zukunft des Landes‘ (S. 400).“ 

Shakespearehaft war höchstens der Ausgang der Wahl. Doch der Rückzug von Joe Biden geschah viel zu spät. Der Autor fragt nicht danach, weshalb er Biden neben der Kandidatur nicht auch das Präsidentenamt niederlegte, um seine Vizepräsidentin für den anstehenden Wahlkampf optimal zu positionieren. Hier enttäuscht Woodwards Analyse, da auch das von ihm hochgelobte Team um Biden mit Blick auf den Wahlkampf Teil des Problems und nicht der Lösung war.

Insgesamt mutet „Krieg“ seinen Leserinnen und Lesern einiges zu. Der Versuch, in einem Band alle zentralen innenpolitischen wie außenpolitischen Ereignisse aus dem Blickwinkel des Weißen Hauses über den Zeitraum eines halben Jahrzehnts zu analysieren, ist zu ambitioniert. Heute — im Juni 2025 — ist das Buch nicht weniger als ein politischer Nachruf auf die Supermacht USA, wie wir sie kannten: ihrer internationalen Verantwortung bewusst, verlässlich und wertebasiert. (bp 2025)