Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist, 2019.
Die Nachricht von der großangelegten russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 war nicht nur ein Schock für die breite Öffentlichkeit, sondern auch für viele Russlandexpert:innen. Wer sich fragt, wie es so weit kommen konnte, wer Antworten sucht, dem sei das Buch „Die Wahrheit ist der Feind – Warum Russland so anders ist“ empfohlen. In ihrem bereits 2019 erschienen Werk analysiert Golineh Atai die russische Politik unter Wladimir Putin. Dabei schöpft sie aus vielfältigen Erfahrungen, Recherchen und Begegnungen im Rahmen ihrer Moskauer Korrespondententätigkeit für die ARD, die sie von 2013 bis 2018 ausübte. In dieser Zeit begleitete Atai den Euro-Maidan in der Ukraine, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim sowie die von Russland unterstützten Separatistenkriege um die ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk aus nächster Nähe.
Als eine Zäsur der russischen Politik betrachtet Atai die dritte Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten im Jahre 2012. Die Furcht Putins vor umwälzenden politischen Ereignissen in Russland wie dem Arabischen Frühling oder den Maidanprotesten war ausschlaggebend für eine Neuausrichtung seiner Politik. Geschürt wurde diese Furcht im ersten Halbjahr 2012, als sich im ganzen Land Proteste ereigneten, die sich zunächst gegen eine erneute Kandidatur und danach gegen die Wiederwahl Putins richteten. Der Präsident beschuldigte den Westen, Urheber einer Kampagne gegen ihn zu sein. Zur Konsolidierung seiner Macht ging Putin zu einer aggressiveren Außenpolitik über, erhöhte die staatliche Repression gegenüber oppositionellen Gruppen und unabhängigen Medien im Inland. Auch die politische Annäherung Putins an das antiwestliche, rechtsextreme bis rechtskonservative Milieu ist diesem übergeordneten Ziel des Machterhalts zuzuschreiben. In dem Lager verortete politische Außenseiter erlangten ab 2012 in den Staatsmedien und in der Politik größeren Einfluss. Seitdem sind sie Garanten für die Verbreitung von Putins ideologischen Amalgam aus Orthodoxie, Sowjetnostalgie, Antiliberalismus und der Sehnsucht nach neuer imperialer Größe Russlands. Die Autorin porträtiert neben dem Präsidenten alle wichtigen Akteure und Organisationen aus dessen Umfeld.
Die Einblicke, die Atai ihren Leser:innen in die russische Propaganda-Maschinerie gewährt, sind ebenso detailreich wie erschreckend. „In der Informationsautokratie, wie einige Forscher das politische System Russlands bezeichnen, festigt Wladimir Putin seine Macht durch die Kontrolle der Wahrheit und der Erzeugung von Meta-Narrativen (S. 16).“ Die Chefredakteurin von Russia Today (RT) Margarita Simonjan bezeichnete 2012 Information als eine Waffe wie jede andere und verglich ihre Nachrichtenagentur mit dem Verteidigungsministerium – „Das Verteidigungsministerium kämpfte gegen Georgien und wir führten den Informationskrieg aus, gegen die ganze westliche Welt (S. 165).“ Früh erkannte der Kreml die Macht der staatlich gelenkten Informationswaffe. Als Simonjan und Dmitri Kisseljow 2014 ihr neues Format Sputnik als Schwester von RT vorstellten, machten sie keinen Hehl daraus, dass sich ihre Arbeit explizit gegen westliche Medien, gegen den „westlichen ‚Mainstream‘ (S. 166)“ richtet. Durch das Schüren von Ängsten sowie das Verbreiten von Falschmeldungen soll das Vertrauen in demokratische Institutionen in Europa und den USA untergraben werden. In Kombination mit den russischen Bestrebungen, mit Bots und Trollen soziale Netzwerke für ebendiese Zwecke zu missbrauchen, hat die russische „Informationswaffe“ im Westen bereits erheblichen Schaden verursacht. Atai zitiert die Schweizer Slawistin Silvia Sasse, der es gelungen ist, die Bestrebungen von RT auf den Punkt zu bringen: „Mit RT soll man gemeinsam mit der russischen Regierung Clinton, Merkel, die EU, den Neoliberalismus etc. hassen können und dabei vergessen, dass die Putin’sche Politik nicht links ist, sondern nationalistisch, xenophob, homophob, ultrareligiös, korrupt und autoritär (S. 248).“ Mit Blick auf die Erfolge der Propaganda-Maschinerie des Kremls außerhalb von Russland ist der Untertitel des Buches „Warum Russland so anders ist“ kritisch zu betrachten. Haben sich im Westen nicht viele Menschen von Falschmeldungen zu fragwürdigen Entscheidungen verführen lassen? Dass wir im Westen gar nicht so anders sind, dafür steht u. a. die Wahl Donald Trumps in den USA, der Brexit in Großbritannien und die Querdenkerbewegung in Deutschland. Wenngleich es falsch wäre, Putin die alleinige Schuld für diese Entwicklungen zu geben, so sind sie Beleg, dass wir ebenfalls für Desinformationskampagnen anfällig sind. Im Gegensatz zu den Menschen in Russland haben wir u. a. das Glück über eine breit gefächerte Medienlandschaft und staatlich unabhängiger Berichterstattung zu verfügen. (bp 2022)