Timothy Snyder: Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin, 2012.
Timothy Snyders „Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin“ wurde 2012 mit dem Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung prämiert. Mittlerweile ist es in siebenfacher Auflage erschienen und ist weltweit in mehr als vierzig Sprachen erhältlich.
Wer glaubt, es handle sich hierbei um eine historische Studie, die darauf zielt festzustellen, ob Stalin oder Hitler der größere Menschheitsverbrecher war, der liegt falsch. Im Mittelpunkt des Buchs steht vielmehr das historische Schicksal der Bevölkerung eben jener Region, die mittlerweile als „Bloodlands“ bekannt ist. Hierzu gehören heute Westrussland, Belarus, Polen, die baltischen Staaten sowie die Ukraine. Das Grauen, das sich dort von 1933 bis 1945 ereignete, ist kaum in Worte zu fassen. Die Zahl von 14 Millionen Menschen, die im Namen von unterschiedlichen Ideologien in derselben Region einen gewaltsamen Tod fanden, ist zu ungeheuerlich, um sie tatsächlich fassen zu können. Doch Snyder arbeitet in seinem mehr als 400 Seiten umfassenden Werk an eben jener Fassbarkeit des Unfassbaren, indem er zahlreiche Einzelschicksale geschickt mit seiner historischen Studie verwebt. Getreu seiner Überzeugung: „Wir müssen fähig sein, nicht nur die Zahl der Toten zu sehen, sondern jedes Opfer als Individuum wahrzunehmen.“
Über die von Stalin in den Jahren 1932/33 künstlich erzeugten Hungersnöte in der Ukraine, der weit mehr als drei Millionen Menschen zum Opfer fielen und lediglich dem Zweck dienten, den Widerstand der ukrainischen Bauern gegen die Kollektivierung zu brechen, schreibt Snyder: „Überleben war nicht nur ein physischer, sondern auch ein moralischer Kampf. Eine Ärztin schrieb im Juni 1933 an eine Freundin, sie sei noch keine Kannibalin geworden, aber sie sei ‚nicht sicher, ob ich es nicht werde, bevor mein Brief dich erreicht‘.“ Der Autor resümiert anhand etlicher Berichte aus dem Holodomor – eben jener Hungerkatastrophe in der Ukraine: „Die guten Menschen starben zuerst. Wer nicht stehlen oder sich prostituieren wollte, starb. Wer anderen zu essen gab, starb. Wer keine Leichen essen wollte, starb. Wer seinen Mitmenschen nicht töten wollte, starb. Eltern, die keine Kannibalen werden wollten, starben vor ihren Kindern.“
Die Lesenden stehen vor einer großen Herausforderung: Wer es schafft, das erste Kapitel „Die sowjetischen Hungersnöte“ zu verarbeiten, der glaubt, nun könne ihm nichts mehr schockieren, wird eines Besseren belehrt. Die deutsche Invasion der Sowjetunion am 22. Juni 1941 nennt Snyder den Beginn einer Katastrophe, „die sich der Beschreibung verweigert“. Der Autor analysiert das Hungersterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, die Blockade Leningrads, die Massenerschießungen, mit denen der Holocaust einsetzte, bis zur Planung und Inbetriebnahme der Vernichtungslager.
Den Terror der deutschen Besatzung in Minsk (1941 bis 1944) nennt der Historiker „schrankenlos“. Er berichtet von menschenverachtender Willkür, Morden, Demütigungen und von Deutschen, die Juden als Sklaven nahmen, um ihre Häuser und Kleider zu putzen. In diesem Kontext zitiert er einen der Täter: „Der österreichische Arzt Irmfried Eberl, der sich nach Vergasungsaktionen an Behinderten in Deutschland in Minsk aufhielt, schrieb an seine Frau, er brauche in diesem ‚Paradies‘ gar kein Geld.“
Snyders Buch zu lesen, macht keine Freude, es verursacht Unbehagen und ist daher von herausragender Bedeutung. Bloodlands ist eine Erinnerungsstütze aus Stahlbeton: kalt und so hässlich wie unverwüstlich. Sie führt uns vor Augen, was Totalitarismus im Kern bedeutet: unbeschreibliches Leid. (bp 2023)