Wer macht Geschichte?

Ian Kershaw: Der Mensch und die Macht – Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert, 2022.

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Diesen Satz aus Karl Marx‘ Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ nennt Ian Kershaw als Leitmotiv seines neusten Werks „Der Mensch und die Macht – Über Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert“. Hierin geht der Historiker der übergeordneten Frage nach: „Waren es die Führer, die das 20. Jahrhundert ‚gemacht‘ haben? Oder wurden sie vielmehr von ihm gemacht? [S. 15]“. Um das vermeintliche Henne-Ei-Problem aufzulösen, seziert der britische Historiker den Werdegang von zwölf einflussreichen politischen Personen des vergangenen Jahrhunderts. Neben lupenreinen Autokraten wie Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Franco, Tito und (mit gebührendem Abstand) Gorbatschow; analysiert Kershaw auch die Karrieren demokratischer Staatslenker wie Churchill, de Gaulle, Adenauer und Kohl. Als einzige Vertreterin komplettiert Margaret Thatcher die Fallauswahl. Die essayistischen Kurzbiografien legen ihr Hauptaugenmerk auf die Machtausübung, zudem beleuchten sie gesondert die „Persönlichkeit“, den „politischen Aufstieg“, die „Vorbedingungen der Macht“ sowie abschließend die jeweilige „Hinterlassenschaft“. Diese Beiträge – zuvörderst über Mussolini und Tito – zeichnen das Buch aus und erwecken beim Lesen das Interesse, sich mit der ein oder anderen Biografie intensiver auseinanderzusetzen.

Die Auswahl der Untersuchungsfälle ist schwammig. Eine vordergründige Gemeinsamkeit, die Machterlangung im Kontext einer Krise, trifft nicht auf alle zwölf Probanden im gleichen Maße zu. Wenngleich der Krisenbegriff mittlerweile inflationär genutzt wird, ist es fragwürdig, den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem Bruch der sozialliberalen Koalition am 1. Oktober 1982 gleichzusetzen. Ersterer ermöglichte Churchill den Weg in die Downing Street und Letzterer brachte Helmut Kohl ins Bonner Kanzleramt.

Bei der heterogenen Fallauswahl drängt sich die Frage auf: Lassen sich bei diesen Persönlichkeiten Gemeinsamkeiten ausmachen? Hierzu schreibt Kershaw: „Sie alle waren außerordentlich entschlossen und charakterstark bei der Überwindung von Schwierigkeiten und Rückschlägen. Sie besaßen einen unbändigen Erfolgswillen und ein Maß an Egozentrik, das extreme Loyalität verlangte und jeden und alles dem Erreichen des angestrebten Ziels unterordnete. Sie alle waren ‚Getriebene‘. Sie hatten das Gefühl, – das einige auch ausdrückten, – eine Mission zu haben, ein ‚Schicksal‘ zu erfüllen [S. 512].“ Menschen in außergewöhnlichen Führungspositionen verfügen in aller Regel über die genannten Eigenschaften, das ist weder eine neue noch eine überraschende Erkenntnis. Das gilt auch für die Beantwortung der zentralen Frage dieser Studie: Machen Menschen oder Umstände Geschichte? Hierzu resümiert der Historiker: „Die zwölf Personen waren nicht nur Macher der Geschichte, sie wurden auch von der Geschichte gemacht; sie waren das Produkt von spezifischen Umständen, die sie in die Lage versetzten, ihre Art der Macht auszuüben [S. 539].“ Wer sich von Kershaws Arbeit einen neuen Blickwinkel auf die „Erbauer und Zerstörer Europas im 20. Jahrhundert“ verspricht, wird enttäuscht. „Der Mensch und die Macht“ ist lediglich ein Destillat seiner beiden Werke „Höllensturz: Europa 1914 bis 1949“ und „Achterbahn: Europa 1950 bis heute“. (bp 2023)