Michael Thumann: Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, 2023.
Im Sommer 2023 präsentierte das Bundeskabinett erstmals eine Nationale Sicherheitsstrategie. Darin führt die Bundesregierung aus, wie sie beabsichtigt, auf äußere und innere Gefahren zu reagieren. In der Einleitung des Strategiepapiers heißt es: Das heutige Russland sei auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum (https://www.nationalesicherheitsstrategie .de).
Wie konnte es so weit kommen? Wer sich diese Frage stellt, dem sei Michael Thumanns Werk „Revanche – Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“ empfohlen. Der Journalist und Autor leitet derzeit das Moskauer Büro der ZEIT. Mit ein paar Unterbrechungen berichtet er seit 1996 aus und über Russland sowie den Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ende 1999 traf Thumann erstmals Wladimir Putin zu einem Interview. Er beschreibt den damaligen russischen Ministerpräsidenten als schmalgesichtigen, fast schüchternen Mann, der etwas unbeholfen wirkte und ein umständliches Russisch mit vielen bürokratischen Formeln sprach. Wie dieser Mann vom Geheimdienstmitarbeiter im Kalten Krieg zu einem der gefährlichsten Potentaten unserer Zeit aufstieg und wie der Westen seine Großmannssucht verkannte, steht im Mittelpunkt seines Buchs.
Dem Autor gelingt es, die Wechselwirkung von Politik und Gesellschaft anschaulich darzustellen. Im Besonderen die Entwicklung von Jelzins zu Putins Russland gibt einen Eindruck, wie die Einschränkungen der Pressefreiheit, die Dominanz staatlicher Propaganda sowie die nahezu vollständige Annullierung der Opposition die gegenwärtige russische Gesellschaft prägen.
Davon zeugen Alltagsbegegnungen sowie Interviews, die der Journalist in seine Ausführungen einfließen lässt. Wie bspw. das spontane Gespräch mit seiner Nachbarin im Treppenhaus im Sommer 2022, die ihm erklärte: „Es ist gut, dass jetzt [in der Ukraine] aufgeräumt wird mit diesen Nazis [S. 200]“. Die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst jüdischer Herkunft ist, konnte die Frau nicht von ihrer Meinung abbringen. Demgegenüber zeugen andere Berichte des Autors von Angst wie Resignation seiner Gesprächspartner, die Putins Politik kritisch betrachten.
Der historische Abriss, den Thumann dem Lesenden bietet, ist von keiner geringen Bedeutung, da auch hierzulande viele Menschen für die russische Propaganda empfänglich sind. So nennt der Autor Putins Um- bzw. Fehldeutungen der Geschichte als zentralen Teil einer Strategie, um seine Macht nach innen wie nach außen auszubauen. In diesem Sinne rechtfertigt Putin den Überfall auf die Ukraine mit dem historischen Martyrium Russlands, das vom Westen betrogen, von Völkermord bedroht und durch die Ukraine verraten worden sei.
Diese Erzählung offenbart: Missbrauchte und falsch gedeutete Geschichte kann auch im 21. Jahrhundert Kriege heraufbeschwören. Dezidiert geht der Autor daher auf Behauptungen der russischen Propaganda ein und widerlegt sie. So wie folgende Aussagen: Die Ukraine sei kein Staat; Es gebe einen Genozid gegen Russen im Donbass; Die NATO-Staaten hätten 1990 versprochen, das Bündnis nicht zu erweitern. Wer jetzt denkt, Moment, das ist doch wahr, sollte das Buch unbedingt lesen. (bp 2023)