Sascha Lobo: Die Vertrauenskrise – Ein Bewältigungskompass, 2023.
Im April 2021 erschien Sahra Wagenknechts viel beachtetes Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Wer das Buch gelesen hat, muss feststellen: Auf mehr als 300 Seiten vertieft Wagenknecht mit einer großen Schaufel eben jene Gräben, die Teile unserer Gesellschaft ohnehin voneinander trennen. Unablässig konstruiert sie ein zentrales Feindbild: den „Linksliberalen“. Wichtigste Erkennungsmerkmale: „äußerste Intoleranz gegenüber jedem, der seine Sicht der Dinge nicht teilt“; lebt in urbanen Zentren, hat eine Universität besucht und ist wohlhabend. Wagenknecht schürt die Vorurteile der Arbeiter gegenüber den Akademikern, der ländlichen gegenüber der städtischen Bevölkerung sowie der Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen gegenüber den Parteien und ihren Vertreterinnen und Vertretern. Ihre Ausführungen garniert sie mit einem gehörigen Schuss Antiamerikanismus, Furcht vor Überfremdung sowie einer fundamentalen Kritik an der europäischen Staatengemeinschaft. Wie auf diese Weise Gemeinsinn oder gar Zusammenhalt entstehen kann, bleibt sie den Lesenden schuldig.
Als Gegenentwurf zu Wagenknechts „Die Selbstgerechten“ ist Sascha Lobos Buch „Die Vertrauenskrise – Ein Bewältigungskompass“ zu betrachten. Darin untersucht der Blogger und Publizist die Krise des „öffentlichen Vertrauens“. Dieser von ihm gewählte Oberbegriff umfasst verschiedene Ausprägungen wie das Vertrauen in Politik, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft, Justiz, zwischen den Generationen sowie den Menschen untereinander. In Summe ist dieses Vertrauen die Grundlage für eine funktionierende demokratische Gesellschaftsordnung. Laut aktuellen Umfrageergebnissen ist es um das öffentliche Vertrauen schlecht bestellt. Ereignisse wie der russische Überfall auf die Ukraine oder die Pandemie haben zu einer Stärkung dieses negativen Trends geführt. Sie haben ein tiefgreifendes Misstrauen generiert, das unsere Gesellschaft belastet.
An Krisen mangelt es uns derzeit auf keinen Fall, aber wie können wir mit ihnen umgehen und wie lässt sich das Vertrauen in wichtige Institutionen reparieren? Nicht alle von Lobos Lösungsansätze sind stringent, seine Analyse der vielfältigen Krisen hingegen schon. So fordert er u. a. ein Ende des „Herrschaftswissens“, eine scheinbar antiquierte Bezeichnung für eine gängige Haltung, die der Bevölkerung nicht zutraut, mit heiklen Informationen angemessen umgehen zu können und ihr daher den Zugang verwehrt. An den Schalthebeln der Macht – auch abseits der Politik – sei ein solches Denken verbreitet, so Lobo. Daher plädiert er für eine konsequente Umsetzung des Informationsfreiheitsgesetzes sowie für eine höhere Transparenz von Entscheidungen. Letzteres soll auch der „kollektiven Vermutungsmaschinerie“ entgegenwirken. Als Negativbeispiel nennt der Autor die Verhandlungen zum TTIP-Abkommen, deren Intransparenz führte zu übertriebenen Befürchtungen der Öffentlichkeit – für die stellvertretend der Kampfbegriff „Chlorhühnchen“ steht.
Der Satz „Das-darf-man-heute-aber-nicht-mehr-sagen“ ist Ausdruck einer anderen Krise, der sich Lobo annimmt. Hier geht es um „Wokeness“ – was kurz gefasst ein Begriff ist, der Political Correctness im Sprachgebrauch abgelöst hat und derzeit vorwiegend in konservativen Kreisen für Furore sorgt. Lobo resümiert, Wokeness ist besonders für diejenigen schwierig zu ertragen, die sich nach Eindeutigkeit und Konstanz sehnen und deshalb davon ausgehen, dass richtig bleibt, worüber einmal ein gesellschaftlicher Konsens herrschte. Lobo erklärt, weshalb ein feineres Gespür in der Mehrheitsgesellschaft notwendig sei, um Alltagsdiskriminierungen wahrzunehmen, warnt jedoch davor, die Grenze zur Toxic Wokeness zu überschreiten. Dieser Umstand tritt ein, wenn Diskriminierung nicht mehr als Selbstzweck bekämpft wird, sondern Unterwerfungszwecken dient.
Während Lobo überzeugende Argumente für eine Neuauflage des Generationenvertrags in umgekehrter Wirkrichtung liefert, sind seine Ausführung über das „Maschinenvertrauen“ weniger überzeugend, fast beängstigend. Er beschreibt es wie folgt: „Maschinen sind von oft kompliziert zu bedienenden Erfüllungsgehilfinnen zu Gesprächspartnerinnen geworden. Sie erreichen damit die Sphäre des Vertrauens – die Basis für jede menschliche Kommunikation. Damit entsteht automatisch ein Maschinenvertrauen, so nenne ich das menschliche Vertrauensverhältnis zu intelligenten, dialogfähigen Maschinen.“
Insgesamt gelingt es dem Autor über weite Strecken, dort für Verständnis zu sorgen, wo zuvor Unverständnis herrschte. Auf diese Weise kann tatsächlich Gemeinsinn wachsen und der Zusammenhalt unserer Gesellschaft gestärkt werden. (bp 2024)