Ost-West-Beziehungen auf dem Prüfstand

Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, 2023.

Seit dem 9. November 2024 liegt der Fall der Mauer 35 Jahre zurück. Anlässlich des Jubiläums kramten die Nachrichtagenturen jenes Filmmaterial aus ihren Archiven heraus, das Beleg ist, für den Freudenrausch, der an diesem Tag unser Land in vielfacher Hinsicht einte. Wer diese ergreifenden Bilder des schicksalhaften Ereignisses heute betrachtet, fragt sich: Wohin ist die Euphorie, die Freude, die Zuversicht verschwunden?

Vermeintliche Antwort(en) auf diese Frage liefert Dirk Oschmann. Der Leipziger Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur entwickelte sich in den letzten Jahren zum Shootingstar der Ost-West-Thematik. Seine zahlreichen Lesungen und Diskussionspodien gerierten zu Publikumsmagneten. Das gilt besonders für die Neuen Bundesländer. 

In seinem Buch „Der Osten eine Erfindung des Westens“ führt er auf etwas mehr als 200 Seiten aus, wie schlecht seiner Meinung nach der Westen über den Osten denkt; wie die Alten, die Neuen Bundesländer seit mehr als 30 Jahren bevormunden und übervorteilen. Den Zweck seines Buchs beschreibt der Autor wie folgt: „Ich werde nicht den Osten erklären, sondern den Westen, der sich anmaßt, den Osten identitätspolitisch zu interpretieren und dabei faktisch zu isolieren (S. 29).“

Dabei bedient sich Oschmann all jener unglücklichen Vorgänge, die dem Verhältnis von Ost und West zu Beginn der 1990er Jahre nicht zuträglich waren. Er arbeitet sich an Ausdrücken wie „der Osten“, „Buschzulage“ sowie „Aufbau Ost“ ab und kritisiert Stimmen aus Politik und Publizistik, die sich in der Vergangenheit kritisch bis unverschämt über „den Osten“ äußerten. Um Emotionen bei seinen Leserinnen und Lesern zu wecken, nutzt er eingangs die wenig durchdachte, wie anmaßende Aussage Arnulf Barings, die dieser vor mehr als 34 Jahren im Gespräch mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler über seine Landsleute im Osten traf: „‚Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar‘ (S. 20).“ 

Um eben jene dunklen Emotionen zu schüren, schreckt der Literaturprofessor nicht davor zurück, sich grober Analogien wie dieser zu bedienen: „In einer Anekdote, also einer mit sozialer Energie aufgeladenen true story aus dem Jahr 1992 sagt ein Westdeutscher zu einem Ostdeutschen, dem er die Frau ‚ausgespannt‘ hat: ‚Erst haben wir euch euer Land weggenommen, dann eure Arbeit, jetzt eure Frauen.‘ So wiederum stellt sich das in der privaten Version dar. Kürzer und schöner lässt sich Makrohistorie nicht in Mikrohistorie übersetzen (S. 15).“ So erkennt der Lesende bereits auf den ersten Seiten: Diese Ausführungen tragen kaum zu einem besseren Verhältnis oder gar Verständnis von Ost und West bei.

Allen voran ist festzuhalten: Mit der Einigung der beiden deutschen Staaten änderte sich für 16 Millionen Deutsche nahezu alles. Ihr Leben wurde von den Füßen auf den Kopf gestellt, unabhängig davon, wie sie zuvor zum SED-Regime standen. Demgegenüber lief für 60 Millionen Westdeutsche das Leben so weiter, wie sie es seit Jahren kannten und gewohnt waren. Blick auf die persönlichen Ebene war die Last der Einheit ungleich verteilt.

Nicht zu Unrecht kritisiert Oschmann die fehlende Symbolpolitik der Bundesregierung zu Beginn der 1990er Jahre, die er als „kapitaler Irrtum“ und „Geburtsfehler“ bezeichnet [vgl. S. 48]. Wer auf den Einigungsprozess zurückblickt, muss sich eingestehen: Wir hatten verdammt viel Glück. Die weltpolitischen Gegebenheiten waren günstig und das schnelle Handeln aller beteiligten Akteure machte die Einigung möglich. Es ist aus heutiger Sicht unverständlich, dass es den Verantwortlichen damals nicht gelungen ist, mit einer Politik der Symbolik, wie mit der Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung gesamtdeutsche Fixpunkte zu schaffen. Lediglich der Austausch des Einbands des bewährten Grundgesetzes mit dem einer Verfassung hätte ein solcher Fixpunkt sein können.

Auch die Kommunikation der Bundesregierung mit Blick auf die Herausforderungen der Einheit waren mit markigen Sprüchen rund um die „blühenden Landschaften“ bis hin zu „das zahlen wir aus der Portokasse“ – alles andere als geschickt. Herausforderungen im Vorhinein zu verzwergen, erweckt bei ihren Bezwingerinnen und Bezwingern keine Begeisterung; sie macht das Scheitern nur noch bitterer als es ohnehin schon ist.

Doch diese Punkte gehen in Oschmanns Buch unter. Sie werden überlagert von seiner Kritik an den Medien, dem gegenwärtigen Politikbetrieb, den finanziellen Ungleichheiten sowie der Demokratie in unserem Land. Exemplarisch für seine Medienkritik betrachtet er den Spiegeltitel vom 24. August 2019. Darauf abgebildet ist das bekannten Wutbürger-Angelhütchen in den Nationalfarben sowie die Überschrift „So isser, der Ossi. Klischee und Wirklichkeit: Wie der Osten tickt – und warum er anders wählt.“ Oschmann kritisiert: „Das ist nichts weiter als gezielter Macht- und Medienmissbrauch. Hat man das Cover gesehen, wird der Text sofort zur Nebensache; was immer da stehen könnte, interessiert nicht mehr. Das Cover aber bleibt ein für alle Mal im Gedächtnis, denn es brennt sich ein, bis alle Hirnfaser schwarz und verkohlt sind (S. 30).“ Der Titanic-Titel vom November 2022 empört Oschmann auf ähnliche Weise: „Das völlig einfalls- und witzlose Coverbild der Satire-Zeitschrift Titanic vom November 2022 – ‚Rezessionsangst in Deutschland: nackt, arm, rechts – Sind wir bald alle Ossis?‘ bestätigt das noch einmal ganz unmittelbar (S. 34)“.

Oschmanns Meinung nach, tragen die großen westdeutschen Medienhäuser die Schuld an einer überwiegend negativen Ost-Berichterstattung. Besonders kritisiert er das Format „ZEIT im Osten“ – die Bezeichnung empfindet er als ähnlich anmaßend wie die Existenz eines Ostbeauftragten der Bundesregierung. Wer hingegen die Arbeit des in Leipzig ansässigen Redaktionsteams der „ZEIT im Osten“ verfolgt, kann die Kritik an der Wochenzeitung schwerlich nachvollziehen. Um Emotionen zu schüren, ist dem Literaturwissenschaftler die Diskussion um die Bezeichnung „Osten“ im Titel der Zeitung recht und billig. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Beiträgen der ZEIT wäre diesem Ziel indes abträglich. Dementsprechend findet sie keinen Raum in seinen Ausführungen.

Wenn er darüber sinniert, weshalb die BILD-Zeitung das populärste Printmedium im Osten sei, begründet er dies u.a. mit dem Preis des Boulevardblatts, der geringer ist als jener von Zeitungen mit weniger Bildern und mehr Text (vgl. S. 111). Das ist ein schwaches Argument. Laut Statista sind sich die Deutschen darin einig, dass sie mehrheitlich – in Ost wie West – das Printmedium sowie die digitale Version der Zeitung mit den vier Großbuchstaben präferieren (Vgl. Statista: Auflage der überregionalen Tageszeitungen im 3. Quartal 2024, online unter: https://lmy.de/HmBAw).

Oschmanns Ausführungen nach, sei im Osten ein ausgeprägteres Demokratieverständnis als im Westen anzutreffen: „Ja, man kann sogar sagen, dass der Osten die Demokratie besser versteht, weil er sie sich erkämpfen musste, statt sie von den Amerikanern geschenkt bekommen zu haben. Oder wie es bei Klaus Wolfram heißt: ‚Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie, weder vor 1989 und erst recht nicht danach – er erkennt sie nur genauer, er nimmt sie persönlicher‘ (S. 88 f.)“. Das mag schön klingen, entspricht jedoch nicht der Realität. Die Wahlerfolge einer in Teilen rechtsextremen Partei sowie die Sympathiebekundungen für Putins Russland zeigen ein anderes Bild der Demokratiebindung bei knapp einem Drittel der Wählerinnen und Wähler in den Neuen Bundesländern. Eine äußerst schwach ausgeprägte Parteienbindung unterscheidet den Osten vom Westen. Wenngleich sich hierbei die Alten den Neuen Bundesländern von Jahr zu Jahr annähern. Dieser Umstand ist indes ursächlich für die hohe Volatilität bei Wahlen und ist letztlich auch auf die Diktaturerfahrung zurückzuführen. Der Literaturprofessor bewertet dies anders: „der Osten hat ja nicht nur diese Diktaturerfahrung und dadurch etwa weniger politische Erfahrung, sondern ganz im Gegenteil, er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung, Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der gegenwärtigen Spielart der Demokratie als ‚Post-Demokratie‘ [S. 89].“ Höchst fragwürdig ist es, unsere Demokratie mit dem Präfix „post“ zu versehen. „Post-Demokratie“ suggeriert, die bundesdeutsche Demokratie sei eine bloße Fassade formeller demokratischer Prinzipien, die von privilegierten Eliten kontrolliert werde (siehe hierzu: Chantal Mouffe).

Oschmann zeichnet im Rahmen seiner Argumentation das Bild eines goldenen Westens, wo die Menschen häufiger Urlaub machen, längere und spektakulärere Reisen unternehmen und jeweils mindestens ein Auto ihr Eigen nennen dürfen. Dabei scheut er nicht vor populistischen Aussagen wie diesen zurück: „Und man muss daran erinnern, dass Corona in Deutschland im großen Stil zuerst von Leuten verbreitet wurde, die sich einen Skiurlaub in Ischgl hatten leisten können. Natürlich allesamt aus dem Westen, weshalb Corona in der Anfangsphase im Osten gar nicht auftrat (S. 140).“ 

Wie tief die Ost-West-Barriere im Denken des Literaturprofessors verhaftet ist, verdeutlicht dieses Beispiel: „So erwirtschaftet der Westen einen großen Teil seines Reichtums seit Langem damit, dass er sich die historische Benachteiligung Osteuropas und anderer Weltgebiete schamlos zunutze macht, wobei er gleichzeitig noch vorgibt, etwas Gutes zu tun [S. 110].“ Es ist anzunehmen, dass mit den Renditen, die der Westen aus Osteuropa und anderer „Weltgebieten“ presst, ausschließlich die Bürgersteige von Hamburg bis München vergoldet werden, während der Osten von diesem Reichtum nur träumen kann [Anm. d. Verf.]. 

Wer exakt diesen Blick auf unser „postdemokratisches“ Land und die Welt teilt, wird Oschmanns Werk lieben. Das Buch ist das Ergebnis, wenn sich ein Literaturwissenschaftler auf dem Gebiet der Soziologie versucht; wenn einseitiger Beifall wichtiger ist als Erkenntnis oder gegenseitiges Verständnis. (bp 2025)