Über das Leben und Wirken des Herrn Kirchbergs

Franziska Augstein: Winston Churchill – Biographie, 2024.

„Church ist Kirche, und Hill ist Hügel. Der Name Churchill klingt im Englischen etwa so, wie im Deutschen der Name Kirchberg klingt: nach Landadel“, so beginnt Sebastian Haffner seine im Jahr 1967 erstmals erschienene Biographie des ehemaligen britischen Premierministers. Schon damals widmeten sich etliche Autoren dem Projekt, das Leben und Wirken des „größten Briten aller Zeiten“[1] literarisch zu konservieren. Churchill selbst beteiligte sich gleich mit mehreren Büchern an diesem Unterfangen. Sein mehrbändiges Werk „Der Zweite Weltkrieg“ erhielt im Jahr 1953 sogar den Literaturnobelpreis. Sehr zum Verdruss des Ausgezeichneten, er hatte zwar mit dem Nobelpreis gerechnet, allerdings in der Kategorie Frieden. Mit Boris Johnsons „Der Churchill Faktor“ liegt sogar ein Werk aus der Feder eines weiteren ehemaligen Premierministers vor.

Ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen von Haffners Buch sowie unzähliger Biographien später, veröffentlichte Thomas Kielinger „Winston Churchill – Der späte Held“. Kielinger ist es gelungen, aus dem reichhaltigen Reservoir verschiedenster Abhandlungen über Churchill ein lesenswertes Destillat zu gewinnen. Dabei legt der Journalist und Autor sein Augenmerk auf die Niederlagen des Politikers. Der kritische Umgang mit Quellen sowie der Schreibstil zeichnen Kielingers Arbeit aus. 

Wer glaubt, mit dieser Publikation sei das Feld der deutschsprachigen Churchill-Literatur für lange Zeit bestellt, der irrt. Das belegt Franziska Augstein mit ihrem 2024 erschienenen „Winston Churchill“ eindrucksvoll. Sie versteht sich darin, über den schmalen Pfad zwischen nüchterner Analyse einerseits und Respekt gegenüber den historischen Verdiensten andererseits zu balancieren.

Im Zuge der Black-Lives-Matter-Proteste zu Beginn dieses Jahrzehnts hinterfragte ein größer werdender Teil der Öffentlichkeit die rassistischen Ansichten des ehemaligen Premierministers. Augstein geht auf die Vorwürfe ein. Sie kommt zu dem Schluss: „Churchills Rassismus war von vulgär-darwinistischem Denken bestimmt, ohne dass er, der politische Pragmatiker, in Gefahr geraten wäre, sich in Theorien zu verlieren. Sein Rassismus fußte auf seinem Glauben an die Errungenschaften des Empire mit seiner abendländischen Zivilisation, die es in allen britischen Territorien zu verbreiten gelte, zum Wohle aller. Mit einem Wort: Churchill war vor allem ein Imperialist; sein Rassismus kam ergänzend hinzu, er unterfütterte seinen Imperialismus [S. 98].“ Augstein verweist darauf, dass Rassismus aufgrund der Hautfarbe unter Europäern verbreitet war. Das macht Churchills Rassismus nicht besser. Der Hinweis verdeutlicht vielmehr, wie sich unsere moralischen Ansichten über ein halbes Jahrhundert hinweg gewandelt haben.

Biografen nutzen gern Anekdoten, um jene Person zu charakterisieren, die im Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses steht. Churchill bietet hierzu einen großen Fundus. Hier ist Vorsicht geboten! In etlichen Büchern, Presseerzeugnissen aller Art sowie in unzähligen Sonntagsreden wird der Schlagabtausch des Premiers mit Lady Astor gern dargeboten. Der Legende nach ließ sich Lady Nancy Astor nach einer Diskussion mit dem Premier entnervt zu der Aussage verleiten: „Wenn ich ihre Frau wäre, würde ich Gift in ihren Tee mischen.“ Churchill konterte: „Wenn sie meine Frau wären, würde ich ihn trinken.“ Das Paradebeispiel einer Retourkutsche à la Churchill gehört ebenso in das Reich der Mythen und Legenden wie die Zitate „no sports“ und „traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“ [vgl. Boris Johnson: Der Churchill Faktor, 2015, S. 158 f.]. 

Auch bei Augstein findet sich die ein oder andere Anekdote, doch für ihre Charakterisierung Churchills nutzt sie einen anderen Zugang: Sie stellt den Lesenden das Umfeld Churchills vor – getreu der Devise: „Zeig mir deine Freunde und ich sage dir, wer du bist“. Dabei analysiert die Historikerin nicht nur Freunde, Familienmitglieder, Weggefährten, sondern auch politische Gegner. Ihr glückt das Kunststück, maßzuhalten und sich nicht in verschiedenen Exkursen zu verzetteln.

So entwirft sie ein wenig schmeichelndes Bild von Churchills Vater Lord Randolph als es ihr berühmter Historikerkollege in den 1960er Jahren tat: „[Sebastian] Haffner krönte seine Eloge mit der Bemerkung, Lord Randolph sei ein besserer Politiker gewesen als Bismarck. Winston Churchill wäre mehr als erfreut gewesen, hätte er das noch lesen können. In Wirklichkeit war sein Vater mehr ein Selbstdarsteller, denn ein Bismarck. Er trat auf mit dem Gestus des Harlekins: Da bin ich! Und spielerisch war auch seine Politik. Ihm kam es darauf an, sich selbst in Szene zu setzen [S. 33].“ Für Winston Churchill war sein Vater ein Fixstern, ihm wollte er gerecht werden, ihm wollte er gefallen. Die Vorbildfunktion des Vaters ist von großer Bedeutung, um Churchill zu verstehen. Das funktioniert mit Augsteins Blick auf den Vater deutlich besser als mit Haffners bismarckischer Verklärung. 

Die Biographie ist konsequent chronologisch gegliedert. Der Lesende wird nach dem Vorwort durch Churchills Vita geleitet, prägende Ereignisse und Personen stehen dabei im Mittelpunkt. Lediglich das finale 17. Kapitel „Tod und Verklärung“ wirkt in Teilen zu ambitioniert. Wenn es um Churchills Hinterlassenschaft geht, möchte die Autorin auf den letzten 30 Seiten gleich mehrere komplexe Themen abarbeiten. Dazu gehören: die filmische Darstellung des Kriegspremiers, das „hässliche Zusammenspiel: Rassismus und Empire“ sowie ein Abriss über die Art und Weise der „Entzauberung“ der historischen Persönlichkeit, wie sie sich in den letzten Jahren manifestiert hat. Jeder der genannten Themen bietet Stoff für eine eigenständige Publikation; das Schlusskapitel bietet hierfür zu wenig Raum. Das ist ein kleiner Kritikpunkt, der es nicht vermag, das Gesamtwerk zu trüben. Franziska Augstein hat mit „Winston Churchill“ eine großartige Biographie vorgelegt. (bp 2025)

 

[1] Im November 2002 fragte der Rundfunksender BBC sein Publikum nach dem „größten Briten aller Zeiten". Mehr als eine Million Menschen nahmen an der Umfrage teil und kürten Winston Churchill mit dem Titel.